Die in die Berechnung einfließenden Faktoren werden in zwei Kategorien eingeteilt: GEOMETRIE und POPULATION. Sie werden zum einen durch Modelleigenschaften und zum anderen durch Eingabedaten des Benutzers definiert. Modelle, die für Evakuierungsanalysen eingesetzt werden, müssen die nachfolgenden Anforderungen erfüllen und die Eingabedaten den aufgezählten Werten entsprechen.
5.1 Kategorie GEOMETRIE
Diese Kategorie beschreibt die räumliche Anordnung und Geometrie des Gebäudes bzw. der Fluchtund Rettungswege, ihre Versperrung und teilweise Nicht-Verfügbarkeit. Die Gebäudegeometrie ist in allen für den Ablauf der Simulation wichtigen Details wie die Einteilung in Ebenen und Geschossen, und die Eigenschaften von Hindernissen, Wände, Treppen, Rampen, Türen und Ausgänge, zu berücksichtigen.
5.2 Kategorie POPULATION
Die Zusammenstellung der Population erfolgt im Hinblick auf Alter, physische Attribute und Reaktionsdauer. Die statistische Zusammensetzung der Population ist identisch für alle Szenarien mit Ausnahme der Reaktionsdauer und der Anfangsposition der Personen. Liegen Daten zur Populationszusammensetzung vor, so sollten sie in Abstimmung mit den zuständigen Behörden verwendet werden.
5.2.1 Allgemeines
Diese Kategorie POPULATION beschreibt die minimalen Anforderungen an die Eigenschaften und die Zusammensetzung der Population:
- Jede Person wird in der Simulation individuell repräsentiert.
- Die grundlegenden Regeln für die Entscheidungen und Bewegungen sind für alle Personen gleich und werden durch einen dokumentierten, universellen Algorithmus beschrieben.
- Die Leistungsfähigkeit jeder Person oder Personengruppe wird durch einen Satz von Personenparametern festgelegt. Einige dieser Parameter wirken sich stochastisch auf das Verhalten der Personen aus.
- Die Bewegung jeder einzelnen Person wird aufgezeichnet.
- Die Personenparameter variieren zwischen den Individuen einer Population.
- Der Zeitunterschied zwischen den Aktionen zweier Personen in der Simulation (also die Zeit, innerhalb derer alle Personen agieren) soll zeitlich hoch aufgelöst und im Verhältnis zur Gesamtentfluchtungsdauer mikroskopisch klein sein. Die Aktualisierung aller Aktionen wird als Update bezeichnet.
- Bei der Auswahl der analysierten Szenarien ist die für das Objekt zutreffende Population, die Wahl der Flucht- und Rettungswege und gegebenenfalls die Auswirkung von Umwelteinflüssen zu berücksichtigen. Simulationen können mit folgenden Vereinfachungen durchgeführt werden:
- Die Personen bewegen sich entlang der Flucht- und Rettungswege.
- Da eine gefahrlose Entfluchtung das Grundziel einer Entfluchtungsanalyse darstellt, können die Auswirkungen von Umwelteinflüssen wie z.B. Rauch, Hitze, giftige Stoffe oder die Statik eines Gebäudes zur Festlegung der maximal erlaubten signifikanten Gesamtentfluchtungsdauer herangezogen werden.
- Gruppenverhalten wird implizit dadurch berücksichtigt, dass definierte Personengruppen gleiche Fluchtwege nutzen. Explizites Gruppenverhalten wie z.B. das Zusammenbleiben einer Gruppe wird in der Analyse nicht berücksichtigt.
- Beim Wegfall einer oder mehrere Vereinfachungen kann die zulässige signifikante Gesamtentfluchtungsdauer in Abstimmung mit den zuständigen Behörden angepasst werden.
5.2.2 Altersverteilung der Population
Stehen keine Daten zur Verfügung, soll die folgende Standardpopulation verwendet werden. Sie besteht zu jeweils 50 % aus Männern und Frauen deren Alter wie in Abbildung 1 dargestellt zwischen dem Minimum- und Maximumwert normalverteilt ist. Der Mittelwert des Alters ist 50 Jahre, die Standardabweichung 20 Jahre. Das Minimumalter beträgt 10 Jahre, das Maximumalter 85 Jahre.
5.2.3 Reaktionsdauer
Sind genaue Kenntnisse zum Entfluchtungskonzept bekannt, können die Reaktionsdauern gemäß Anhang 3: Verteilung der individuellen Reaktionsdauern festgelegt werden. In allen anderen Fällen muss die Sensitivität des Entfluchtungskonzepts anhand von drei Szenarien mit den folgenden drei Reaktionsdauerverteilungen bestimmt werden.
- Schnelle Entfluchtung: Alle Personen erhalten eine Reaktionsdauer von 0 Sekunden. Dies bewirkt durch die gleichzeitige Reaktion aller Personen ein hohes Personenaufkommen auf den Flucht- und Rettungswegen.
- Zügige Entfluchtung: Die Personen erhalten eine gleichverteilte Reaktionsdauer von 0- 60 Sekunden zugewiesen und reagieren somit innerhalb einer Minute.
- Langsame Entfluchtung: Die Personen erhalten eine gleichverteilte Reaktionsdauer. Die Werte können aus „Anhang 3: Verteilung der individuellen Reaktionsdauern“ entnommen werden.
Die Verteilung der Reaktionsdauern kann je nach Gebäudetyp und Veranstaltungsart variieren und ist im Falle von Abweichungen von o.g. Beispiel mit der zuständigen Behörde abzustimmen.
5.2.4 Ungehinderte Gehgeschwindigkeit in der Ebene
Zur durchschnittlichen Gehgeschwindigkeiten für eine stadttypische Bevölkerung in Abhängigkeit vom Alter gibt es verschiedene Veröffentlichungen. Es empfiehlt sich, die Werte entsprechend der Veröffentlichungen von Weidmann [2] zu verwenden.
5.2.5 Ungehinderte Gehgeschwindigkeiten auf Treppen
Fruin [3] untersuchte die Gehgeschwindigkeiten auf Treppen. Er unterschied dabei zwischen Innen- (Nr. 1, Steigungsverhältnis 17,8 cm / 28,6 cm) und Außentreppen (Nr. 2, Steigungsverhältnis 15,2 cm / 30,5 cm). Die mittleren Gehgeschwindigkeiten (Horizontalgeschwindigkeiten) sind in Tabelle 2 zusammengefasst.
Personengruppe |
Gehgeschwindigkeit in der Ebene (m/s) |
|
---|---|---|
Minimum |
Maximum |
|
Unter 30 Jahre |
0,58 |
1,61 |
30 bis 50 Jahre |
1,41 |
1,54 |
Über 50 Jahre |
0,68 |
1,41 |
Personen mit beeinträchtigter Mobilität* |
0,46 |
0,76 |
Tabelle 1: Gehgeschwindigkeiten in der Ebene nach Weidmann [2].
* Diese Werte sind entnommen aus:
Interim Guidelines for Evacuation Analyses for New and Existing Passenger Ships: Maritime Safety Committee Circular 1033, IMO, London 2002.
Die Gehgeschwindigkeit von Männern ist im Mittel um 10,9 % höher als die von Frauen. Dies ergibt für Männer eine mittlere Gehgeschwindigkeit von 1,41 m/s und für Frauen eine von 1,27 m/s.
Personengruppen |
Mittlere Gehgeschwindigkeiten auf Treppen (m/s) |
|||
---|---|---|---|---|
Treppe abwärts |
Treppe aufwärts |
|||
(1) |
(2) |
(1) |
(2) |
|
Unter 30 Jahre |
0,76 |
0,81 |
0,55 |
0,58 |
30 bis 50 Jahre |
0,65 |
0,78 |
0,50 |
0,58 |
Über 50 Jahre |
0,55 |
0,59 |
0,42 |
0,42 |
Personen mit beeinträchtigter Mobilität |
0,42 |
0,32 |
Tabelle 2: Mittlere Gehgeschwindigkeiten auf Treppen nach Fruin [3].
Simulationsmodelle müssen die hier dargestellten Tendenzen ausreichend genau berücksichtigen. Vereinfacht kann auf Treppen auch mit einer Gehgeschwindigkeit gerechnet werden, deren Horizontalkomponente in beide Richtungen (treppauf und treppab) der Hälfte der Gehgeschwindigkeit in der Ebene (Tabelle 1) entspricht.
5.2.6 Personendichten der Anfangsverteilung
Die Anfangsverteilung der Personen gibt vor, gemäß welcher Personendichten die Personen zu Beginn der Simulation verteilt werden müssen. Liegen konkrete Daten vor, sollten sie unter Bekanntgabe der Quelle in die Analyse einfließen. Ansonsten gelten die Richtwerte aus Tabelle 3.
Gebäudetyp | Personendichte (Personen/m²) | Quelle |
Kaufhaus | 0,18 – 0,36 | NFPA2 |
Bürogebäude | 0,11 | NFPA |
Lager | 0,04 | NFPA |
Messen | 1,00 | MVStättV 3 |
Versammlungsräume | 2,00 | MVStättV |
Stehplatzbereiche in Zuschaueranlagen | 4,70 | EN 13200-14 |
Tabelle 3: Richtwerte als Dichten für die Anfangsverteilung der Population.